Experteninterview – „Heute überlegen Unternehmen, wie sie im Jahr 2050 aufgestellt sein können“

Experteninterview – 23. Juli 2021

Interview mit Wolfgang Saam, Geschäftsführer des Verbandes Klimaschutz Unternehmen e. V. und Prof. Jens Hesselbach, Leiter des Fachgebiets UPP Umweltgerechte Produkte und Prozesse der Uni Kassel

Kein Unternehmen kommt heute mehr am Thema Klimaschutz vorbei. Wolfgang Saam und Prof. Jens Hesselbach erklären anhand ihres gemeinsamen Projekts „Wege zum klimaneutralen Unternehmen“ worauf Unternehmen achten müssen, welche Maßnahmen fragwürdig sind und wie sich die Unternehmenspolitik in den vergangenen Jahren gewandelt hat.

Wolfgang Saam, Geschäftsführer des Verbandes Klimaschutz Unternehmen e. V.
Prof. Jens Hesselbach, Leiter des Fachgebiets UPP Umweltgerechte Produkte und Prozesse der Uni Kassel

Herr Professor Hesselbach, Sie haben mit Ihrem Fachgebiet upp an der Universität Kassel gemeinsam mit dem Verband Klimaschutz Unternehmen das Kooperationsprojekt “Wege zum klimaneutralen Unternehmen“ gestartet. In diesem zweijährigen Projekt werden für zehn Mitgliedsunternehmen maßgeschneiderte Fahrpläne zur Klimaneutralität entwickelt. Wie läuft das konkret ab?

Prof. Hesselbach: Wir starten bei jedem Unternehmen mit einem 3-Tages-Workshop. Dabei machen wir eine Art Bestandsaufnahme, indem wir die Treibhausgase entlang der Wertschöpfungskette der einzelnen Unternehmen bilanzieren. Was heißt das? Nach dem Greenhouse Gas Protocol werden die Emissionen nach Sope 1 bis 3 unterschieden. Bei Scope 1 geht es um direkte Emissionen, also das, was bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen in der Heizung oder im Fuhrpark freigesetzt wird. Scope 2 sind die indirekten Emissionen, z. B. Strom und Fernwärme. Der schwierigste Punkt ist Scope 3, der sich vor allem damit beschäftigt, welche Emissionen bei der Herstellung der Vorprodukte und der Rohstoffe, die das Unternehmen verarbeitet, freigesetzt werden.

Gleichzeitig stimmen wir mit dem Unternehmen ab, welche Maßnahmen es bereits durchgeführt hat und wir diskutieren unterschiedliche Zielstrategien, die man verfolgen kann, um Klimaneutralität in einem bestimmten Zeitraum zu erreichen. Nach diesem ersten Workshop ziehen wir uns zurück, erarbeiten Lösungswege, machen dann eine Zwischenpräsentation der Ergebnisse und schließlich eine Endabstimmung. Am Schluss des Projektes soll herauskommen, dass die Unternehmen für sich eine klare Strategie hin zur Klimaneutralität haben, die sie dann auch umsetzen.

Stichwort Klimaneutralität. Der Begriff wird so oft verwendet, aber ist er eigentlich überhaupt hinreichend definiert? Gibt es einheitliche, überprüfbare Kriterien dafür oder müsste das politisch noch genauer festgelegt werden, Herr Saam?

Saam: Es ist richtig, dass die Klimaneutralität gerade noch nicht so eng gefasst ist, wie wir es eigentlich bräuchten, um einen klaren Ankerpunkt für die Zielerreichung zu haben. Einerseits ist natürlich klar, es gibt die Schritte Energieeffizienzsteigerung, als zweites die Substitution, also Fossile ersetzen durch erneuerbare Energien und drittens die Kompensation von Restemissionen. Aber das ist noch kein praktischer Plan für Unternehmen. Gerade läuft ein internationales Normungsprojekt, um Klimaneutralität enger zu fassen. Für die deutsche Wirtschaft als am Weltmarkt orientierte Exportnation ist so eine internationale Abstimmung sehr wichtig. Aber das wird noch eine ganze Weile dauern.

Herr Saam hat gerade von Minimieren, Substituieren und Kompensieren gesprochen. Sie hatten die drei Scopes genannt, Herr Professor Hesselbach. Welche konkreten Möglichkeiten sind in Ihrem Projekt schon zusammengekommen, wie Unternehmen ihre klimaschädlichen Emissionen reduzieren können?

Prof. Hesselbach: Richtig, es gibt diese drei Bausteine auf dem Weg zur Klimaneutralität. Dabei sollte eine gewisse Chronologie eingehalten werden. Im ersten Schritt geht es darum, entlang der gesamten Produktionskette die Energieeffizienz durch entsprechende Einsparmaßnahmen zu erhöhen. Im Anschluss schaut man dann, welche fossilen Energieträger lassen sich durch Erneuerbare ersetzen? Zum einen primär, indem man eigene Kapazitäten aufbaut, also zum Beispiel mit einer Photovoltaikanlage auf dem Dach. Und zu schauen, wo bekomme ich grünen Strom und grüne Wärme her. Dabei ist es ganz wichtig, darauf zu achten, dass man tatsächlich einen Strombezug hat, der zu einem Ausbau der erneuerbaren Energien führt und nicht nur zu einem reinen Stromtauschgeschäft, wie es heute leider häufig der Fall ist. Der letzte Schritt ist die Kompensation. Das ist das, was wir kritisch sehen, zumindest so, wie es heute praktiziert wird. Für die Unternehmen ist es sehr schwierig zu unterscheiden, welche Kompensationsmaßnahme hat tatsächlich einen Impact, um globale und nationale CO2-Emissionen zu senken? Und was ist ein reines Freikaufen, was zurecht von vielen NGOs kritisiert wird?

Unsere Intention ist, dass die Mitgliedsfirmen eigeninitiativ sind, also durch eigene Investitionen die CO2-Neutralität erreichen und nicht versuchen, sich durch ein schnelles Zertifikat freizukaufen. Denn, wie wir aktuell sehen, rächt sich das später häufig, weil die NGOs zu Recht nachschauen, ist das wirklich eine Einsparmaßnahme für Treibhausgasemissionen oder ist es nur ein reines Greenwashing?

Bei Ihrem Projekt machen ganz unterschiedliche Unternehmen mit. Gibt es diesen einen Weg zur Klimaneutralität oder sehen die Wege immer ganz unterschiedlich aus, je nachdem, aus welcher Branche ein Unternehmen ist?

Prof. Hesselbach: Ja, die Wege sind natürlich vollkommen unterschiedlich. Eine Versicherung etwa hat keine eigene Produktion, hier spielt beispielsweise der Scope 3, also das, was durch den Zukauf von Vorprodukten und Rohstoffen geschieht, keine entscheidende Rolle. Bei Unternehmen mit einer sehr hohen Fertigungstiefe sind das zum Teil 85 bis 95% der Treibhausgasemissionen, die man sich dadurch ins Haus holt. Deshalb muss sich zum Beispiel ein produzierendes Unternehmen sehr viel in die vorgelagerte Wertschöpfungskette hineindenken und zusammen mit den Lieferanten nach klimafreundlichen Produkten und Rohstoffen schauen. Viele Unternehmen haben die Möglichkeit, eigene Erzeugungsanlagen wie Photovoltaik auf ihrem Gelände zu installieren, andere, etwa in Ballungsräumen oder mit ungeeigneten Dächern, können das nicht.

Herr Saam, ihr Verein ist schon seit 2013 aktiv. Wie hat sich das Verhalten der Unternehmen in dieser Zeit verändert?

Saam: Am Anfang, vor gut zehn Jahren, standen die normalen Maßnahmen der Energieeffizienz noch sehr stark im Vordergrund. Da ging es vor allen Dingen um Querschnittstechnologien, das heißt Beleuchtung, Lüftung, Klima, Pumpen etc. Nachdem die Unternehmen in diesem Bereich schon viel gemacht hatten und die Maßnahmen dadurch immer schwieriger und auch immer teurer wurden, sind die Firmen vor fünf bis sechs Jahren verstärkt in die eigene Erzeugung reingegangen, über Blockheizkraftwerke, Photovoltaik, ein paar wenige auch mit einem kleinen Windrad auf dem Firmengelände.

Seit etwa drei Jahren kann man feststellen, dass sich zwei Dinge geändert haben: Zum einen kommen vom Finanzmarkt neue Anforderungen hinzu. Es hat zuerst die börsennotierten Unternehmen betroffen, dass dort die Investoren sagen, ein Unternehmen bekommt nur dann langfristig Finanzierung vom Kapitalmarkt, wenn es nachhaltig aufgestellt ist. Durch die EU-Taxonomie-Verordnung und alles, was damit zu tun hat, werden diese Anforderungen jetzt auch stärker in den Mittelstand und in das Bankengeschäft des Mittelstandes getragen. Der andere Punkt ist die gesellschaftliche Entwicklung. Kein Unternehmen und auch keine politische Institution kommt mehr an dem Thema vorbei.

Seit zwei Jahren sind Unternehmen nun wirklich daran, langfristige Horizonte zu entwickeln für ihre Strategien. Das heißt, der Horizont der früher vielleicht auf zwei bis fünf Jahre ausgelegt und stark von rein technischen Maßnahmen geprägt war, hat jetzt eine höhere Flughöhe erreicht. Heute überlegen sie sich, wie können wir als Unternehmen eigentlich im Jahr 2050 aufgestellt sein? Was können wir dann noch produzieren? Wie müssen wir uns finanzieren? Welches Portfolio müssen wir Kunden anbieten, um dann letztlich die Anforderungen der Klimaneutralität zu erfüllen?

Wir sehen auch, dass einzelne Technologien oder auch Investitionsoptionen heutzutage unter der Fragestellung diskutiert werden, ob sie Klimaneutralitäts-ready sind. Also ob sie beispielsweise auch in zehn Jahren noch die neuen Anforderungen erfüllen. Das ist wirklich ein Paradigmenwechsel, der jetzt in der Wirtschaft stattgefunden hat.

Herr Professor Hesselbach, der Blick in die Zukunft ist da, der Wille bei den Unternehmen ist da. Wo hängt es denn? Geht es um Geld oder um Know-how?

Prof. Hesselbach: Es geht sicherlich auch um Know-how, weil man sich deutlich intensiver umschauen muss, was denn andere machen und was man von denen lernen kann. Ich glaube, um Geld geht es weniger, sondern darum, dass es für die Unternehmen ein neues Geschäft ist, wenn sie jetzt eigene Investitionen in erneuerbare Energien tätigen. So muss man zum Beispiel wissen, dass Energieversorger, die in erneuerbare Energie investieren, das oft auf Basis einer Kapitalverzinsung als Bemessungsgrundlage machen. Produzierende Unternehmen arbeiten mit einer statischen Amortisationszeit. Das ist eine ganz andere, in der Regel auch härtere Anforderung, was einfach an den unterschiedlichen Lebenszeiten der Anlagen liegt. Eine PV- oder Windkraftanlage hat mindestens 20, 25, wenn nicht 30 Jahre Lebensdauer. Deshalb ist dort die Kapitalverzinsung geeigneter. Das müssen die Unternehmen jetzt lernen.

Außerdem ist noch eine gewisse Unsicherheit da, welche Wege man in den Bereichen Substitution und Kompensation beschreiten soll. Soll man in eigene Anlagen investieren? Soll man Ökostrom einfach am Markt kaufen? Soll man Green PPAs (Power Purchase Agreements) kaufen, also den Direktbezug aus Anlagen? Das sind Hemmnisse, die tatsächlich noch eine Rolle spielen. Dieses Problem des Ökostroms, welcher Strom ist jetzt gut und welcher schlecht, das schafft Verunsicherung. Hier sollten wir über die Politik mehr Klarheit hineinbringen.

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview können Sie hier anhören.

Zum Verband Klimaschutz Unternehmen e.V.

Der 2013 gegründete Verband Klimaschutz Unternehmen e.V. ist eine bundesweite und branchenübergreifende Vorreiterinitiative für den Klimaschutz. Sie bringt Unternehmen, die besonders anspruchsvolle Ziele für CO2- und Energieeinsparung haben mit solchen zusammen, die entsprechende Maßnahmen besonders erfolgreich umgesetzt haben. Das geschicht über den Best-Practice-Transfer, aber auch über Praxis-Konferenzen, politische Termine und den Austausch von Impulsen und Ideen im Netzwerk.

Weitere Angebote, Informationen und Experteninterviews der EM-Power Europe zum Thema Klimaneutrale Unternehmen finden Sie hier .

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