"Wir brauchen große Hebel, die man schnell umlegen kann"

Experteninterviews – 23. März 2021

Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen

Tübingen will bundesweit beim Klimaschutz eine Vorreiterrolle einnehmen und als erste Stadt in Deutschland bis zum Jahr 2030 klimaneutral sein. Der Tübinger Gemeinderat hat Ende 2020 ein dickes Klimapaket geschnürt. Er sieht ein milliardenschweres Programm mit 20 Bausteinen vor. Warum es für den Klimaschutz schnelle und effektive Maßnahmen braucht und wie diese konkret aussehen, darüber haben wir mit Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer gesprochen.

Die Stadt Konstanz hat als erste in Deutschland im Mai 2019 den Klimanotstand ausgerufen. Ein gutes Jahr später entschied der Gemeinderat, dass das ursprünglich angestrebte Ziel, bis 2030 klimaneutral zu sein, kaum umsetzbar sei. Warum kann Tübingen das, was Konstanz nicht kann?

Ich war von Anfang an skeptisch, was den Klimanotstand angeht, weil ich finde, dass Worten Taten folgen müssen. Wenn man den Notstand ausruft, dann muss man eigentlich sofort mit maximaler Kraft losschlagen. Wir haben uns stattdessen lieber ein ehrgeiziges Ziel gesetzt und alle Maßnahmen, die kommunal möglich sind, in ein Programm gepackt, um bis 2030 klimaneutral zu werden. Kurz gesagt, klimaneutral finde ich besser als Klimanotstand.

Eine Besonderheit in Tübingen ist, dass Sie einen parteiübergreifenden Konsens für diesen Beschluss geschaffen haben. Wie kam dieser zustande und in welcher Form waren die Bevölkerung und Klimaschutzinitiativen, etwa Fridays for Future, involviert?

Tatsächlich war Fridays for Future entscheidend für dieses Klimaschutzprogramm. Wir hatten auch vorher schon ein für frühere Maßstäbe sehr ehrgeiziges Programm. Aber den Gedanken, schon bis 2030 klimaneutral sein zu wollen, habe ich ehrlicherweise nicht für realistisch gehalten, für politisch nicht realistisch. Und dann habe ich festgestellt, dass ich offenbar zu wenig Ehrgeiz hatte oder zu wenig Vorstellungskraft. Denn alle Fraktionen des Tübinger Gemeinderats haben im Wahljahr 2019 den Wahlprüfstein von Fridays for Future ganz klar mit „Ja“ beantwortet, nämlich, dass sie es für richtig halten, bis 2030 als Kommune klimaneutral zu werden.

Inwiefern ist die Bevölkerung in diese Entscheidung eingebunden gewesen?

Die Verwaltung bekam den Auftrag, mit der Bevölkerung ein Programm auszuarbeiten, wie Tübingen bis 2030 klimaneutral werden kann. Es war ein sehr intensiver Prozess über 14 Monate hinweg, den die Coronapandemie natürlich erschwert hat. Wir hatten mehrere Bürgerversammlungen, Online-Befragungen und Foren. Dabei haben wir viel gelernt und das Programm gegenüber dem ersten Entwurf deutlich verbessert.

Das Klimapaket besteht jetzt aus 20 Maßnahmen in den drei Sektoren Wärme, Strom und Mobilität. Bei der Wärme wollen Sie 242.000 t CO2-Äquivalente pro Jahr, beim Strom 160.000 t und bei der Mobilität 114.000 t vermindern. Wie sehen die Maßnahmen konkret aus?

Tatsächlich sollte man bei der Wärme anfangen. Sie ist der größte Sektor und dort haben wir bisher die geringsten Fortschritte erzielt. Wir haben in Tübingen bereits ein ausgedehntes Fernwärmenetz, das wird aber fast komplett fossil befeuert. Die wichtigste Maßnahme lautet deshalb, das Fernwärmenetz auf die gesamte Kernstadt auszudehnen und die Einspeisung auf erneuerbare Energien umzustellen. Auf Solarthermie, Holz, Hackschnitzel, Wärmerückgewinnung an der Kläranlage, um die wichtigsten zu nennen. Mit dieser Methodik können wir innerhalb eines Jahrzehnts die Wärmeversorgung nahezu aller Gebäude komplett auf erneuerbare Energien umstellen.

Es geht also gar nicht so sehr darum, dass der einzelne Häuslebauer sein Haus dämmt und seine Heizung umstellt, sondern Sie machen das sozusagen zentral?

Wir haben das die letzten zehn Jahre natürlich versucht und die Sanierungsquote nach oben gebracht. Aber jetzt haben wir nochmal eine andere Dringlichkeit. Ich sage Ihnen ganz offen, es gäbe gar nicht genügend Handwerker, um innerhalb von zehn Jahren alle Häuser zu sanieren. Die sind einfach nicht da. Nun kann man entweder die Hände in den Schoß legen und die Arktis schmelzen lassen oder man denkt sich etwas Neues aus. Es ist sehr viel einfacher, eine Heizungsanlage rauszuschmeißen und ein Fernwärmerohr ins Haus zu legen, als das komplette Gebäude zu sanieren. Deswegen gehen wir diesen Weg.

Wie sehen die Maßnahmen in den Bereichen Strom und Mobilität aus?

Beim Strom sind wir in den letzten zehn Jahren sehr gut vorangekommen. Wir hatten in Tübingen 2011 erst einen Anteil von 3% erneuerbarer Energien am Strombedarf. Mittlerweile sind wir bei fast 60% angekommen. Wir wollen aber nicht nur 100% erneuerbaren Strom erreichen, sondern Windkraft und Solaranlagen darüber hinaus nochmal massiv ausbauen, weil wir künftig auch Strom brauchen werden, um Wärme zu gewinnen und Elektromobilität zu ermöglichen. Für den Ausbau nehmen wir ganz bewusst unsere Gemarkung nicht aus. Der Gemeinderat hat klar gesagt, dass er auch großflächige Solar- und Windkraftanlagen auf der Gemarkung Tübingen haben will.

Das heißt, Sie lösen das Problem als Stadt, in dem Sie dafür sorgen, dass es genügend regenerativen Strom gibt und warten nicht darauf, bis sich die Hausbesitzer die Solaranlagen aufs Dach schrauben?

Wenn wir das alles in zehn Jahren schaffen wollen, haben wir nicht mehr die Zeit, mit jedem Einzelnen zu diskutieren und gewissermaßen Häuserkampf zu praktizieren, sondern wir brauchen große Hebel, die man schnell umlegen kann. So wie einen Anschluss- und Nutzungszwang für Fernwärme oder eine Pflicht, das eigene Dach für Stromerzeugung zu nutzen.

Man muss als Hausbesitzer nur sein Dach für die Installation einer Solaranlage zur Verfügung stellen, die Anlage aber nicht selber bezahlen. Das klingt ganz in Ordnung. Aber wie sieht es mit Autos aus? Müssen die Tübinger alle E-Autos kaufen?

Im Mobilitätsbereich ist es einerseits schwieriger, etwas zu erreichen, andererseits kann man gerade in der Stadt am leichtesten zeigen, wie es besser geht, z.B. indem man das Fahrrad benutzt, einen E-Roller oder ein elektrisches Carsharing-Auto. Das alles gibt es bereits. Die Technik ist verfügbar, jetzt muss sie nur im großen Stil eingesetzt werden. Für uns ist klar, dass wir die Fahrrad-Infrastruktur so ausbauen müssen, dass man im Stadtgebiet schneller und sicherer ans Ziel kommt als mit dem Auto. Dann steigen die Leute auch um.

Welche konkreten Schritte stehen aktuell auf dem Weg Tübingens zur Klimaneutralität an?

Wir haben nach dem Beschluss im November begonnen, größere Projekte auf den Weg zu bringen. Die schon erwähnte Solarthermieanlage zur Einspeisung ins Fernwärmenetz ist bereits im Bebauungsplanverfahren. Wir haben Radbrücken und eine Fahrradstation am Bahnhof im Gesamtinvestitionsumfang von 30 Mio. € im Bau und durchfinanziert. Bei der Fernwärme werden wir dieses Jahr mit dem ersten größeren Wärmenetzausbau in einem Bestandsgebiet als Modell beginnen, um dann zu sehen, ob wir das in den Folgejahren entsprechend schneller voranbringen können.

Außerdem werden wir 2021 einen Stadtteil komplett auf Energie nach Bedarf umrüsten. Das heißt, es wird nur dann Beleuchtung aktiviert, wenn tatsächlich Menschen unterwegs sind. Ob im Auto oder auf dem Fahrrad spielt keine Rolle. Wenn niemand da ist, wird das Licht drastisch runter gedimmt und entsprechend eingespart. Wir wollen also wirklich zeigen, was möglich ist, und gemeinsam mit der Bürgerschaft zusehen, dass unser ökologischer Fußabdruck schon im nächsten Jahr deutlich kleiner wird.

Sie möchten mehr über Klimaneutralität erfahren und wie Sie als Unternehmen ihre Emissionen senken können? Dann besuchen Sie unsere Themenseite.

Klimaneutrale Unternehmen

Sie verwenden einen veralteten Browser

Die Website kann in diesem Browser nicht angezeigt werden. Bitte öffnen Sie die Website in einem aktuellen Browser wie Edge, Chrome, Firefox oder Safari.