Für die vollständige Energiewende braucht das Stromsystem mehr Leitungen, mehr digitale Hardware, mehr kluge Software und mehr Flexibilität auch auf Seiten der Verbraucher. Der hohe Kapitalbedarf, Fachkräftemangel und eine komplexe Regulierung machen den Ausbau der Netze jedoch zur Herausforderung. Auf der EM-Power Europe Conference 2025 teilten Branchenexperten ihre Erfahrungen.
Wenn es um die Energiewende geht, ist sehr häufig von Dezentralisierung die Rede. Doch diese sei „nicht nur ein Schlagwort“, betonte Luis Vale Cunha von den European Technology & Innovation Platforms (ETIPs). Cunha betreut dort das Themenfeld Smart Networks for Energy Transition (SNET). Ende 2024 seien in der Europäischen Union 338 Gigawatt an Photovoltaik installiert gewesen, im Jahr 2030 sollen es 816 Gigawatt sein. Angesichts einer solchen dezentralisierten Erzeugung müsse man mehr „technische Fragen adressieren“, machte Cunha deutlich.
Die hohen Leistungen, die fluktuierende Einspeiser liefern, rückten vor allem die Frequenz- und Spannungshaltung in den Fokus. Bislang jedoch reagierten Politik und Stromwirtschaft häufig nur auf die aktuellen Änderungen in der Erzeugungsstruktur, statt strategisch vorausschauend zu agieren. Hinzu kämen, so der EU-Vertreter, die „27 unterschiedlichen Realitäten“ der Mitgliedsländer. Zum Beispiel gebe es „mindestens 27 unterschiedliche Spezifikationen bei Smart Metern“.
Die Herausforderungen der Marktakteure lägen in den notwendigen Investitionen, den regulatorischen Rahmenbedingungen, den oft kritischen Lieferketten und im Fachkräftemangel. Bei der Regulierung sei eine wichtige Frage, wie man vorhandene Flexibilitäten einsetzt, wie man also regelt, wer bevorzugt Zugriff darauf hat: „Wir müssen die Flexibilität im Netz priorisieren zugunsten der Systemverantwortlichen, nicht der Händler“, erklärte Cunha. Und an alle Akteure an den unterschiedlichen Schaltstellen des Netzes gerichtet, sagte er: „Wir müssen alle Verantwortlichen zusammenbringen.“
Nach diesem Apell berichteten Netzbetreiber und Zulieferer von ihren Erfahrungen in der Praxis. Harri Salomäki von Elenia, dem zweitgrößten finnischen Verteilnetzbetreiber, verwies auf die hohen Investitionen beim Netzausbau. Nach einem Wintersturm im Jahr 2011, der in manchen Gebieten des Landes zu Stromausfällen von bis zu einer Woche führte, erließ die Regierung in Finnland ein Gesetz, wonach bis zum Jahr 2036 sichergestellt sein muss, dass Städte maximal sechs Stunden ohne Strom bleiben, ländliche Regionen maximal 36 Stunden. Damit werden hohe Investitionen in Erdkabel nötig. Im Jahr 2012 hatte Elenia erst 23,1 Prozent seiner Leitungen unter der Erde verlegt, 2024 waren es schon 65,1 Prozent. Das Ziel sind 90 Prozent im Jahr 2036.
Doch die Investitionen treiben die Netzentgelte in die Höhe. Da der Regulator den Anstieg für die Stromkunden eingrenzen will, habe er die Margen gekürzt, die den Netzbetreibern als natürlichen Monopolisten gewährt werden. Die zweite große Herausforderung seien die langen Lieferzeiten bei Netzkomponenten – so warte man auf einen Trafo zur Umspannung von 110 Kilovolt auf 20 Kilovolt derzeit drei Jahre.
Die großen Anstrengungen beim Umbau der Netze betonte auch Mark Nigge-Uricher vom niederländischen Netzbetreiber Alliander: „Wir müssen so viel Netzinfrastruktur bauen, wie in den gesamten letzten 100 Jahren.“ Der enorme Bedarf an zusätzlichen Netzkapazitäten führe aktuell dazu, dass immer mehr Kunden auf Anschlüsse warten. Eine wesentliche Antwort auf die Herausforderungen liege in der Intelligenz im Netz: Durch mehr Flexibilität ließen sich die nötigen Investitionen in die Infrastruktur bei Alliander um eine Milliarde Euro senken.
Dieses Potenzial nutzt auch A Energie, ein großer Stromerzeuger aus dem norwegischen Kristiansand, der viel Erzeugung aus Wasserkraft im Portfolio hat, aber auch ein Stromnetz betreibt. Das Unternehmen hat seine Infrastruktur schon weit digitalisiert: Man habe im eigenen Netz bei den Smart Metern inzwischen eine Quote von 100 Prozent erreicht, berichtete Rune Hogga.
Im Rahmen des Projekts „Euroflex“, das noch bis Ende 2026 läuft, bezahlen die Netzbetreiber ihren Kunden Geld dafür, dass sie Stromverbraucher abschalten, wenn im Netz die Kapazitäten eng werden. Auf diese Weise können die teilnehmenden Stromkunden ihre Stromrechnung senken. Die Transaktionen laufen automatisch über eine gemeinsame Handelsplattform ab. Erste Erfahrungen habe man bereits gemacht, erklärt Hogga. Dazu zähle die Erkenntnis, dass es dauert, bis ein liquider Markt entstehen kann. Grundsätzlich sei aber auch künftig noch mehr Flexibilität im Markt nötig, als man sie heute verfügbar habe. Außerdem müsse die Koordination zwischen den Übertragungs- und den Verteilnetzbetreibern verbessert werden.
Vielerorts liege die Flexibilität noch brach – vor allem im Zusammenhang mit batterieelektrischen Fahrzeugen. Norwegen habe inzwischen eine Million Elektroautos, sagte Hogga, doch das Potenzial der Rückspeisung aus dem Akku ins Netz (bidirektionales Laden oder Vehicle-to-Grid, V2G, genannt) werde noch nicht genutzt. Auch in den Niederlanden, ergänzte Nigge-Uricher von Alliander, sei die Technologie für V2G noch nicht vorhanden. Aber als ersten und einfacheren Schritt praktiziere man immerhin das “Smart Charging“, das Laden nach den Bedürfnissen des Netzes. Dass Flexibilität im Netz aber nicht einfach nur eine quantitative Größe ist, darauf wies Maddalena Pondini, Nachhaltigkeitsexpertin bei Siemens, hin. „Auch der Standort der Flexibilität ist wichtig.“
Zu den Effekten der Energiewende im Verteilnetz, auf die Betreiber reagieren müssen, zählt auch die Umkehr der Lastflüsse – also der Rückfluss von Strom aus dem Verteilnetz in die höhere Netzebene. Das war in der früheren Stromwirtschaft mit Großkraftwerken undenkbar. Welche Konsequenzen man in diesen Fällen idealerweise zieht, müsse man jeweils für die einzelne Region prüfen, berichtete Nigge-Uricher. Ein wichtiges Instrument, um das Netz intelligent zu managen, sei der Aufbau eines digitalen Zwillings, erklärte der Alliander-Manager. Damit könne man in Echtzeit erkennen, was im Netz los ist, zudem Grenzen des Machbaren bestimmen, Lösungen suchen und auch verifizieren. Weil sich Peaks in einzelnen Netzabschnitten besser vorhersagen lassen, könne man zielgenauer reagieren. Das Schlagwort des modernen Netzes sei „Grid as a service“.
Eine Herausforderung bestehe aber auch darin, dass die Betreiber der Netzinfrastruktur heute abschätzen müssen, welche Technik sie in Zukunft in den Umspannwerken brauchen. Die Tatsache, dass es im Stromnetz heute um moderne Technik geht, sieht Nigge-Uricher wiederum als wichtiges Argument, um Nachwuchskräfte zu gewinnen.
So wird deutlich, dass der Umbau des Netzes voranschreitet, dass es zwar Herausforderungen gibt, aber auch Lösungen, die einen engen Austausch und eine Kooperation aller Akteure der Stromwirtschaft erfordern. Und dass sich manche Technologien erst noch etablieren müssen.
Sie konnten nicht an der Veranstaltung teilnehmen oder haben eine Session verpasst? Kein Problem! Die meisten Präsentationen stehen Ihnen auf The smarter E Digital zur Verfügung.