Experteninterview – "Investitionen in Stromnetze müssen in den nächsten zehn Jahren um 50% steigen"

Experteninterview – 20. Oktober 2022

Interview mit Ditlev Engel, CEO Energy Systems bei DNV, über die Zukunftssicherheit unserer Stromnetze

Sind die Stromnetze bereit, die Anforderungen der Energiewende zu meistern? Diese Frage beantwortet DNV in der Studie "Industry Insights – Future-proofing our power grids" Wir haben mit Ditlev Engel, CEO Energy Systems bei DNV, über die Ergebnisse des Berichts und die großen Herausforderungen bei der Transformation des Stromnetzes gesprochen.

Ditlev Engel, CEO Energy Systems bei DNV

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Studie "Industry Insights – Future-proofing our power grids"?

Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters in der Energieversorgung und die Branche muss sich schneller auf ein elektrifiziertes und dekarbonisiertes Energiesystem umstellen. Im Gegensatz zu den kleineren, schrittweisen Veränderungen in der Vergangenheit, erfordert die Zukunftssicherung unserer Netze eine tiefgreifende Umgestaltung unseres Energiesystems: Laut unserem jüngsten Energy Transition Outlook müssen die Investitionen in die Stromnetze in den nächsten zehn Jahren um 50% steigen, um eine zuverlässige Stromversorgung zu gewährleisten, die Klimaziele zu erreichen, die Energiesicherheit zu erhöhen und die einzelnen Regionen besser miteinander zu vernetzen.

Unsere Studie zeigt, dass drei Viertel (76%) der 400 befragten leitenden Energieexperten der Meinung sind, dass die derzeitige Netzinfrastruktur nicht ausreicht, um Strom aus erneuerbaren Energien in Gebiete mit hoher Nachfrage zu leiten, und mehr als neun von zehn (91%) sagen, dass der Ausbau und die Modernisierung der Stromnetze entscheidend für die Erreichung der Klimaziele sind. Die meisten sehen im Ausbau der Netzkapazitäten die höchste Priorität für die Energiewende, insbesondere in Europa.

Welches sind die wichtigsten Trends beim Ausbau und der Modernisierung der Stromnetze? Und welche Rolle spielen dabei digitale Lösungen?

In unserer Umfrage haben wir einige Schlüsselpunkte für die Zukunftssicherung unserer Stromnetze ermittelt. Die meisten davon betreffen die Digitalisierung, darunter eine bessere Datenqualität und -verfügbarkeit, sowie Fortschritte bei der Automatisierung und Cybersicherheit. Mit dem Fortschreiten der Energiewende werden sich die Netzbetreiber verstärkt auf digitale Tools verlassen müssen, um Erzeugungs-, Übertragungs- und Verteilungsanlagen in Echtzeit zu verwalten und zu betreiben, damit sie Stromangebot und -nachfrage optimal ausgleichen können. Viele Netzbetreiber müssen derzeit jedoch mit der Forderung nach Zukunftssicherheit jonglieren und gleichzeitig den laufenden Betrieb sicherstellen... Nach dem Ausbau der Netzkapazitäten ist die Modernisierung der veralteten Infrastruktur die zweithäufigste Priorität der Netzbetreiber (67%).

Einige Energieexperten sprechen von einem Kipppunkt, ab dem das Stromnetz nicht mehr in der Lage sein wird, den wachsenden Anteil volatiler erneuerbarer Energien bei gleichzeitig steigendem Strombedarf zu bewältigen, und es zunehmend zu Stromausfällen kommen wird. Wie sehen Sie das?

Glücklicherweise gibt es viele Maßnahmen mit denen die Netzbetreiber ungeplante Stromausfälle verhindern können. Auch die Digitalisierung und neue Technologien schaffen zusätzliche Möglichkeiten, um die Widerstandsfähigkeit der Netze zu gewährleisten. Diese müssen jedoch entwickelt, umgesetzt und gesteuert werden, während wir gleichzeitig die wachsende Stromerzeugung und -nachfrage auf allen Spannungsebenen – von der Anbindung von Offshore-Windkraftanlagen an Hochspannungsnetze bis hin zu Elektrofahrzeugen in Niederspannungsnetzen – im Auge behalten müssen.

Da die Modernisierung und der Ausbau der Netze mehr Zeit in Anspruch nehmen kann als der Ausbau der erneuerbaren Energien und die Elektrifizierung, können lokal Engpässe entstehen, die zu einer Überlastung der bestehenden Infrastruktur führt und damit auch zu einer Zunahme geplanter Abschaltungen und schließlich häufigeren Ausfällen. Die rasche Elektrifizierung der Haushalte, im Verkehrs- und Industriesektor wird die Auswirkungen auf die Gesellschaft allgemein verstärken. Kommunikation und Abstimmung zwischen allen Systembeteiligten sind daher von zentraler Bedeutung.

Was sind die größten Hindernisse für die Netzmodernisierung in Europa?

In Europa wie auch weltweit sind die größten Hindernisse für den Ausbau der Stromnetze sowohl gesellschaftspolitischer als auch technischer Natur. Fehlende politische Unterstützung wurde von 49% der Befragten angeführt, dicht gefolgt von Kapazitätsengpässen der bestehenden Netzinfrastruktur (42%).
Das Problem der Kapazität lässt sich lösen, wenn wir die anderen Hindernisse überwinden. Dazu gehören neben der Politik Schwierigkeiten bei der Erteilung von Genehmigungen oder Lizenzen (42%) und Widerstände in der Bevölkerung (32%). Zu den weniger gravierenden Problemen gehört auch der Fachkräftemangel (29%). Insbesondere Schwierigkeiten bei der Erteilung von Genehmigungen oder Lizenzen werden in Europa häufiger als in jeder anderen Region der Welt als Grund zur Sorge genannt. Auch der öffentliche Widerstand ist in Europa größer als anderswo, wenngleich der Unterschied nicht so ausgeprägt ist.

Welche Rolle spielen Engpässe in der Lieferkette heute und in Zukunft für die Modernisierung und den Ausbau der Netze?

Unzureichende Kapazitäten in der Lieferkette wurden von insgesamt 18% der Befragten als drittwichtigstes Hindernis für eine schnellere Energiewende genannt. Dieser Anteil war in Nordamerika deutlich höher (29%), wo ein Mangel an einheimischen Fertigungskapazitäten große Bedenken auslöst. Die begrenzte Verfügbarkeit von Rohstoffen wird die Versorgungsketten noch stärker belasten, die aufgrund verschiedener Faktoren, darunter geopolitische Fragen und die anhaltenden Auswirkungen der Pandemie, bereits unter großem Druck stehen. Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass der Elektrizitätssektor im Jahr 2050 etwa doppelt so viel Kupfer, Aluminium und Stahl benötigen wird wie im Jahr 2015. Das wird die Preise in die Höhe treiben, aber auch klare und weitreichende Vorgaben für die Verantwortung der Hersteller und Betreiber im Hinblick auf die Kreislaufwirtschaft und die Wiederverwendung von Materialien erfordern.

In Ihrer Studie stellen Sie fest, dass es noch viele unbeantwortete Fragen darüber gibt, wie das Energiesystem der Zukunft aussehen wird. Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang internationale Veranstaltungen wie The smarter E Europe, bei denen die gesamte Energiebranche zusammenkommt, um genau diese Fragen zu diskutieren?

Branchenveranstaltungen bieten eine großartige Gelegenheit für die Akteure, sich zu treffen, um Ideen und neue Konzepte auszutauschen, die wir hoffentlich in die Praxis umsetzen können. DNV setzt sich stets für eine stärkere Zusammenarbeit innerhalb der Branche ein, um die Energiewende zu beschleunigen.

Das Interview führte Simone Pabst.

Stromnetze benötigen dringend Investitionen

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