Experteninterview – "Kontrolliertes Laden ist die beste Lösung"

Experteninterview – 14. Juli 2022

Interview mit Bruce Douglas, Eurelectric, über die Auswirkungen der E-Mobilität auf das Stromnetz

Bis zum Ende des Jahrzehnts werden voraussichtlich 65 Millionen Elektrofahrzeuge auf Europas Straßen unterwegs sein, heute sind es weniger als 5 Millionen. Wie wird der Ausbau der Elektromobilität die Stromnachfrage verändern? Welche Folgen wird dies für die Stabilität der Stromnetze haben? Über diese Fragen sprechen wir mit Bruce Douglas. Er ist Director Business Development & Communications bei Eurelectric, dem Verband der europäischen Elektrizitätswirtschaft.

Bruce Douglas, Director Business Development & Communications, Eurelectric

Eine Ihrer Hauptaufgaben ist es, den Ausbau der E-Mobilität in Europa zu fördern. Wie wird sich der Anstieg der E-Fahrzeuge auf rund 65 Millionen innerhalb der nächsten zehn Jahre auf das Stromnetz auswirken? Wie kann genügend Strom erzeugt werden, um all diese Fahrzeuge zu laden, und wie kann die Stabilität des Netzes aufrechterhalten werden?

Wir müssen alles, was möglich ist, elektrifizieren. Wir werden nicht 100% erreichen, aber wir können fast 100% erreichen. Eurelectric hat zwei Hauptziele: das eine ist die Elektrifizierung, das andere die Dekarbonisierung. Beide müssen Hand in Hand gehen. Neben der immer drängender werdenden Klimakrise hat sich nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine auch eine Energiesicherheitskrise entwickelt. Jetzt müssen wir nicht nur über eine saubere und sichere Energieversorgung nachdenken, sondern auch über eine bezahlbare. Der Verkehrssektor ist ein wichtiger Teil der Elektrifizierung, aber natürlich muss auch der Wärmesektor elektrifiziert werden.

Speziell für den Verkehrssektor schätzen wir, dass die Zahl der Fahrzeuge auf den europäischen Straßen von heute weniger als 5 Millionen bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 65 Millionen ansteigen wird. Bis 2030 werden wir etwa 34 Millionen Ladestationen in Europa haben, von denen die meisten privat betrieben werden.

Das bedeutet zwei Autos pro Ladestation?

Das sind eine Menge Ladestationen. Die größte Herausforderung liegt unserer Meinung darin, all diese Ladestationen umzusetzen, herzustellen und zu installieren, aber auch in den Auswirkungen auf das Stromnetz. Die Zunahme von E-Fahrzeugen wird unweigerlich zu einem Anstieg der Stromnachfrage führen. In einer Studie, die wir zusammen mit EY durchgeführt haben - Evision genannt - diskutieren wir dieses Thema. Wir schätzen, dass die Stromnachfrage allein durch den Verkehr um 11% pro Jahr steigen wird. Dies könnte sich auf das Stromnetz auswirken.

Welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach haben?

Das Netz kann steigende Lasten unter bestimmten Bedingungen auffangen. Dazu zwei Extrembeispiele: Das eine ist das Laden in Wohngebieten mit einer großen Anzahl kleiner Ladestationen. Hier kann es zu Auswirkungen durch die Gleichzeitigkeit von Ladenvorgängen kommen, wenn die Bewohner um 18 Uhr von der Arbeit nach Hause kommen und ihr Auto an die Ladestation hängen. Gleichzeitig ist auch der Stromverbrauch im Haus abends am höchsten. Beides zusammen kann zu einer Lastspitze führen und Transformatoren überlasten. Hierfür gibt es aber bereits Lösungen. Das zweite Beispiel sind Autobahnen, an denen es ultraschnelle Ladestationen gibt, die punktuell sehr stark belastet sind. Allerdings lässt es sich nicht vorhersehen, wann ein Lkw geladen wird. Auch hier brauchen wir Lösungen, um das Laden zu steuern.

Mit dem Laden in Vororten und auf Autobahnen haben wir nun zwei Szenarien diskutiert. Wie sieht es denn in Städten aus? Was sind hier die Herausforderungen?

Auch hier haben wir die Spitzenlast zwischen 18 und 22 Uhr. Der Unterschied ist die Ladeinfrastruktur. Während auf dem Land jeder mit einer eigenen Einfahrt auch eine eigene private Ladestation hat, ist das Laden in der Stadt oft ein Problem. Wer ist zuständig, vor allem für die Genehmigung und die Installationen selbst?

Wie könnte man dieses Problem lösen? Gibt es Länder oder Städte, an denen wir uns ein Beispiel nehmen könnten?

Vor allem für die Erteilung von Genehmigungen gibt es bereits einige Best-Case-Szenarien. Das Verfahren sollte für Eigentümer von Wohnhäusern oder Gewerbeflächen so einfach wie möglich gestaltet werden. Kontrolliertes Laden ist die beste Lösung, entweder anbietergesteuert oder nutzergesteuert, wobei der Fahrzeughalter den Ladevorgang selbst verwaltet. Dafür bräuchte man zeitabhängige Tarife. Bei Spitzenlast ist der Strom teurer, und ich als Verbraucher würde dann zwangsläufig meinen Ladevorgang entsprechend anpassen, um dann zu laden, wenn der Strompreis niedriger ist.

Auf The Smarter E Europe haben wir jedes Jahr eine Session über Vehicle to Grid (V2G). Die große Vision ist es, alle E-Fahrzeuge mit ihren leistungsstarken Batterien zur Stabilisierung des Stromnetzes einzusetzen. Wie groß ist das Potenzial und wie ist der aktuelle Stand der Dinge?

Wir sprachen von 65 Millionen E-Fahrzeugen auf europäischen Straßen. Die Auslastungsrate der Autos liegt bei etwa 5%. Das heißt, 95% der Zeit bilden diese 65 Millionen Fahrzeuge eine stationäre Batterie. Wenn man die mit jeweils nur einem Kilowatt Leistung nutzen würde, ist das eine bedeutende Ressource, die zur Verfügung steht und abrufbar ist. Wenn E-Fahrzeuge erneuerbaren Strom aus dem Netz speichern und bei Bedarf wieder einspeisen, könnte das die Effizienz, Zuverlässigkeit und Stabilität des Netzes erhöhen. Und V2G hat das Potenzial, das Netz zu unterstützen, indem es Spitzenlasten ausgleicht, die Frequenz reguliert und erneuerbare Energien einbezieht. Im Moment sind wir davon aber noch weit entfernt. Mir sind nur ein oder zwei Hersteller bekannt, die dies anbieten.

Bei der Podiumsdiskussion auf The smarter E Europe habe ich gehört, dass das Stromnetz in Deutschland zu manchen Zeiten den ganzen erneuerbaren Strom gar nicht aufnehmen kann. 2020 haben wir 6.200 Gigawattstunden an erneuerbaren Energien verpuffen lassen, weil wir Windkraft- und PV-Anlagen abschalten mussten, um die Netze nicht zu überlasten. Das zeigt das enorme Potenzial, denke ich.

Das Abregeln der Einspeisung von Energieanlagen ist nichts Neues, es gehört seit jeher zum Stromsystem. Das Beispiel zeigt aber, dass wir mit der zunehmenden Einspeisung variabler erneuerbarer Energien in das Netz andere Lösungen brauchen, um damit umzugehen. Verbindungsleitungen zwischen den verschiedenen Märkten sind dabei eine enorme Hilfe. Die Speicherung ist natürlich so etwas wie der Heilige Gral. Aber eine Chance liegt auch in der V2G-Technologie, bei der überschüssige erneuerbare Energie in Elektrofahrzeugen gespeichert und bei Bedarf wieder ins Netz eingespeist werden kann. Dadurch werden Stromausfälle reduziert und die Nutzung erneuerbarer Energien erhöht.

Auch die Verbraucher müssen mit ins Boot geholt werden, da V2G mit einem Aufpreis bei den E-Autos verbunden ist. Wäre intelligentes Laden eine Möglichkeit, das volle Potenzial der Fahrzeuge zu nutzen?

Unser Lösungsvorschlag ist das gesteuerte Laden, mit anderen Worten: intelligentes Laden. Durch die Steuerung des Ladevorgangs können wir viel besser berücksichtigen, was gerade im Netz geschieht. In Wohngebieten könnten wir die Spitzenlasten reduzieren. Zum Beispiel hat ein deutscher Netzbetreiber in einem Pilotprojekt – mit Zustimmung des Hausbesitzers – die Ladeleistung zwischen 19 und 23 Uhr von 11 kW auf 5,5 kW gedrosselt. In Zukunft werden wir noch rund 300 Milliarden € in den Ausbau der Verteilnetze investieren müssen. Das gilt nicht nur für die E-Mobilität, sondern auch für die Industrie und den Wärmebedarf von Gebäuden.

Welche Hausaufgaben müssen die Energieversorger noch machen?

Bei der Energieversorgung gibt es noch einige Herausforderungen. In Norwegen zum Beispiel sind 90% der Neufahrzeuge elektrisch. Das ist eine enorme Marktdurchdringung. Dort werden 50% der Ladevorgänge gemanaged. Das ist wahrscheinlich das Modell für den Rest von Europa, das sich einfach durchsetzt. Darüber hinaus sind z. B. zeitvariable Stromtarife entscheidend, um Anreize zu schaffen, E-Autos zum richtigen Zeitpunkt zu laden, so dass das Netz entlastet wird. Eine weitere Aufgabe ist beispielsweise das Laden auf Autobahnen, das nicht wirklich gesteuert werden kann. Wenn mehrere der 350 kW-Ladestationen gleichzeitig genutzt werden, weil die Leute schnell weiterfahren wollen, ist die Belastung recht hoch. Hier könnten unter anderem Solarzellen und Speicher installiert werden, um diese Spitzenlast zu bewältigen.

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview auf Englisch können Sie hier anhören.

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