Experteninterview – „Netzdienliches Laden ist der entscheidende Ansatz“

Experteninterview – 27. Juni 2022

Interview mit Markus Wunsch, Leiter der Netzintegration von E-Mobilität bei Netze BW, über die Netzintegration von E-Fahrzeugen

Geht in Zukunft das Licht aus, wenn alle gleichzeitig ihr E-Auto laden? Diese Sorge beschäftigt viele. Wir sprechen mit Markus von Netze BW darüber, ob diese Befürchtung gerechtfertigt ist und was Netze BW als Verteilnetzbetreiber unternimmt, damit das Stromnetz mit dem rasanten Ausbau der E-Mobilität Schritt halten kann.

Markus Wunsch, Leiter der Netzintegration von E-Mobilität bei Netze BW

Netze BW ist der größte Netzbetreiber in Baden-Württemberg. Mit welchen Zahlen rechnen Sie beim Ausbau der Elektromobilität und welche Aufgaben ergeben sich daraus?

Netze BW orientiert sich stark an den Zielzahlen, die beispielsweise die Bundesregierung erreichen möchte. Demnach sollen bis 2030 15 Millionen Elektrofahrzeuge zugelassen werden. Unsere Aufgabe ist es, Prognosen anhand von Algorithmen und soziodemografischen Datenstrukturen zu erstellen, die uns erlauben, diese Zahlen auf unser Netzgebiet herunterzurechnen und Hotspots zu erkennen. Parallel dazu müssen wir die Ladeinfrastruktur in diesen Gebieten bewerten. Sind es private oder öffentliche Ladepunkte und welche Leistung haben sie? Genügen sie oder müssen mehr installiert werden?

Wie behalten Sie den Überblick bei den Ladepunkten? Gibt es da Unterschiede zwischen öffentlichem und privatem Bereich?

Wir haben eine Melde- und eine Genehmigungspflicht, was die Installation von Ladepunkten angeht. Allerdings ist diese an einen Richtwert von 12 Kilovoltampere (kVA) gekoppelt. Alles was unterhalb dieser 12 kVA liegt – beispielsweise die 11 kW Wallbox – ist nur meldepflichtig. Oberhalb dieser Grenze besteht eine Genehmigungspflicht. Das betrifft alles ab der 22 kW Wallbox.

Bei der Meldepflicht bekommen wir als Netzbetreiber im Nachgang die Information, dass ein Ladepunkt installiert wurde. Bei der Genehmigungspflicht muss die Installation beim Netzbetreiber vorher angemeldet werden. Hier können wir dann prüfen, ob der bestehende Netzanschluss ausreicht oder ob wir gegebenenfalls das Netz ausbauen oder verstärken müssen. Das gibt uns als Betreiber die Möglichkeit, die Auswirkungen auf das Stromnetz vorherzusehen und Lastspitzen im Netz abzufedern. Engpässe bei der Stromversorgung zu vermeiden, ist eine der größten Herausforderungen des Netzbetreibers.

Netze BW hat bereits mehrere Projekte durchgeführt, um die Auswirkungen der E-Mobilität auf die Netze zu untersuchen und Lösungsansätze zu entwickeln. Wie sehen die aus?

Unseren Lösungsansatz haben wir in vier Handlungsfelder unterteilt. Der erste Schritt beginnt beim Kunden. Hier muss der ganze Genehmigungs- und Anmeldeprozess schneller und einfacher gestaltet werden. Als nächstes brauchen wir eine transparente Darstellung über die aktuelle Auslastung des Stromnetzes, die wir nur durch die Digitalisierung der Messtechnologie erreichen können. Der dritte Punkt beinhaltet die Optimierung des bestehenden Netzbestandes durch ein gutes Lademanagement und auch hier durch Digitalisierung. Das letzte Handlungsfeld beschreibt den bedarfsgerechten und zukunftssicheren Ausbau des Stromnetzes. In diese Handlungsfelder haben wir Feldversuche eingebettet, um unter realen Bedingungen herauszufinden, wie sich die Elektromobilität auf das Netz auswirkt und was wir tun müssen, um auf den Hochlauf der Elektromobilität vorbereitet zu sein.

Wie genau sehen die Feldversuche aus? Gab es dabei einmal den von vielen befürchteten Blackout?

Nein, einen Blackout gab es nicht, aber wir sind tatsächlich nah an unsere Belastungsgrenze gekommen. Begonnen haben wir 2018 in Ostfildern bei Stuttgart mit dem NETZlabor E-Mobility-Allee zur Netzintegration von Elektromobilität im vorstädtischen Bereich. Hier nahmen wir an, dass durch die Pendler die Elektromobilität als erstes Einzug hält. Darauf aufbauend und mit den wertvollen und differenzierten Erkenntnissen der ersten Studie gab es weitere NETZlabore. Beispielsweise haben wir mit dem NETZlabor E-Mobility-Carré in einem Mehrfamilienhaus 58 Ladepunkte hinter einem Netzanschluss in der Tiefgarage realisiert. Und dann noch das NETZlabor E-Mobility-Chaussee, bei dem untersucht wurde, welche Auswirkungen die E-Mobilität speziell im ländlichen Bereich auf das Stromnetz hat.

Wie wichtig ist netzdienliches Laden, also die Steuerung von außen, für die Mobilitätswende?

Wir haben ein starkes Stromnetz als Basis, das allein schützt uns aber nicht davor, punktuell in Netzengpässe zu laufen, wenn wir in einem schnellen Maß eine hohe Durchdringung von Elektromobilität erreichen. Netzdienliches Laden ist für uns der entscheidende Ansatz, wie wir den Hochlauf der Elektromobilität in der aktuellen Geschwindigkeit tatsächlich gestemmt bekommen. Wir wollen mit Intelligenz und Digitalisierung kundenfreundlich Ladevorgänge ins Netz integrieren. In den NETZlaboren konnten wir dafür die technische Basis entwickeln und gemeinsam mit den Projektteilnehmern vor Ort verschiedene Konzepte hinsichtlich der technischen Relevanz und Werthaltigkeit prüfen, also inwiefern diese uns tatsächlich als Netzbetreiber oder im Netz helfen.

Die Voraussetzung für netzdienliches Laden ist ein Tool, das die Kommunikation zwischen der Wallbox beim Kunden und dem Netzbetreiber herstellt. Wie werden diese Daten verwertet und wie wird ein reibungsloser Ablauf sichergestellt?

Die technische Voraussetzung ist der Zugriff durch den Netzbetreiber auf die Ladepunkte. Dazu müssen wir eine Kommunikations- und Aktorikstrecke aufbauen, die wir in Zukunft mit der Technologie des intelligenten Messsystems verbunden mit einer Steuerbox realisieren wollen. Das intelligente Messsystem wird in den kommenden Jahren weiter ausgerollt und auf diese bestehende skalierbare Infrastruktur können wir entsprechend aufsetzen.

Der Hintergedanke beim netzdienlichen Lademanagement ist die Nutzung der Flexibilität, die beim Laden im privaten Bereich entsteht, also zu Hause oder auch am Arbeitsplatz. Hier sind die Standzeiten länger als der eigentliche Ladevorgang dauert. Dieses Delta ist die Flexibilität, die wir nutzen können. Beispielsweise können wir Netzengpässe dadurch vermeiden, dass wir bei mehreren gleichzeitig stattfindenden Ladevorgängen hinter einem Netzanschluss oder hinter einem Abgang einer Ortsnetzstation die Leistung reduzieren. Der Ladevorgang dauert dadurch etwas länger, trotzdem ist das Auto am nächsten Morgen vollgeladen und der Kunde muss sein Mobilitätsverhalten nicht ändern. Durch die Reduzierung der Leistung dämpfen wir die Lastspitze in kritischen Zeiten, in denen auch andere Verbraucher mit im Netz sind.

Um wieviel Prozent lässt sich die Lastspitze durch netzdienliches Laden dämpfen?

Das hängt von der Stärke der Reduzierung ab. Man könnte theoretisch von 100% bis 0% reduzieren. Wir schalten aber nie ganz ab, das bedeutet, wir werden nie auf 0% reduzieren. Wir machen gerade gute Erfahrungen mit einer 50% Reduktion. Das bedeutet, dass der Ladevorgang einer 11 kW Wallbox für zwei bis vier Stunden auf 5,5 kW reduziert wird. Das Fahrzeug lädt weiter, aber die Lastspitze im Einzelnen wurde um die Hälfte reduziert. Dieser Vorgang kann auf alle E-Fahrzeuge, die über einen Netzanschluss oder Kabelabgang laden, ausgeweitet werden.

Oft wird befürchtet, dass alle gleichzeitig ihr E-Auto laden werden. Welche Erfahrung haben Sie aus Ihren Projekten?

Die Gleichzeitigkeit von Ladevorgängen ist ein wichtiges Thema. Dabei darf man aber nicht nur die Elektromobilität betrachten, sondern muss bei der Kalkulation ebenso die Gleichzeitigkeiten aller Verbraucher mit einbeziehen. Beispielsweise andere Bezugsquellen wie die Wärmepumpe, die eine starke Entwicklung erlebt. Parallel dazu muss bei der Einspeisung ins Netz der sich entwickelnde Ausbau der PV-Anlagen und die damit verbundene Rückspeisung mit einberechnet werden. Unser Fokus liegt allerdings auf der Elektromobilität, weil darin das größte Entwicklungspotential liegt. Daher betrachten wir vorrangig die Gleichzeitigkeit der Elektrofahrzeuge. Wir haben bei den NETZlaboren stark schwankende Gleichzeitigkeiten. Von beispielsweise 22% im E-Mobility-Carré mit 48 Ladepunkten hinter einem Netzanschluss bis zu 75% in der E-Mobility-Chaussee, in der nur acht Fahrzeuge verteilt wurden. Die Schwankungen hängen also davon ab, wieviel Fahrzeuge zu Verfügung gestellt und betrachtet werden.

Ist hinsichtlich der noch nicht ausreichend ausgebauten Netzinfrastruktur das Thema bidirektionales Laden eine Option?

Das bidirektionale Laden, also das Fließen des Stroms in zwei Richtungen zur Stabilisierung des Stromnetzes, wird aktuell stark diskutiert. Unterscheiden muss man zwischen Vehicle-to-home und Vehicle-to-grid. Beim Vehicle-to-home fließt der Strom in ein geschlossenes System hinter einem Netzanschlusspunkt beispielsweise in ein Einfamilienhaus und kann hier zur Eigenverbrauchsoptimierung beitragen. Beim Vehicle-to-grid fließt der Strom zurück ins öffentliche Netz. Hier kann die Kapazität von Fahrzeugbatterien tatsächlich nützlich für die Systemstabilität sein. Dafür muss man dann aber entsprechend viele Fahrzeuge aggregieren. Über gleichzeitig stattfindende Ladevorgänge oder das Abschalten davon lässt sich das Verbrauchs- und Erzeugungsniveau auf Übertragungsnetzebene entsprechend beeinflussen. (SP)

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview können Sie hier anhören.

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