Experteninterview – "Wir müssen das Niederspannungsnetz transparent machen"

Experteninterview – 23. September 2022

Interview mit Ulrich Hempen, Vice President Business Unit Solutions bei WAGO, über Energiewende und Netzstabilität

Besonders im Niederspannungsnetz, wo dezentrale PV-Anlagen, Wärmepumpen, Ladesäulen oder auch ganze Microgrids angebunden sind, wird es in Zukunft spannend. Doch bislang wird diese Netzebene mangels Digitalisierung oft im Blindflug betrieben. Wie sich das Netz besser überwachen, regeln und vor Cyberattacken schützen lässt, darüber sprechen wir mit Ulrich Hempen, Vice President Business Unit Solutions bei WAGO Kontakttechnik.

Ulrich Hempen, Vice President Business Unit Solutions bei WAGO

In Deutschland ist die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern immer noch sehr hoch. Worin steckt das größte Potential, um diese Abhängigkeit zu verringern?

Obwohl wir schon fast die Hälfte unseres Stroms regenerativ erzeugen, liegt beim Gesamtenergieverbrauch der Anteil der Fossilen immer noch bei 84%. Das teilt sich auf in kinetische Energie für Fahrzeuge, in die Erzeugung von Prozesswärme für energieintensive Industrien und in weitere Bereiche, in denen fossile Energieträger benötigt werden. Im Verkehrssektor ist E-Mobilität die Lösung. Auch Prozesswärme für die Industrie lässt sich zunehmend elektrisch erzeugen, hier wird aber sicher auch Wasserstoff eine große Rolle spielen. Diese Umstellung bringt eine große Belastung der Stromnetze mit sich.

Auf der einen Seite brauchen wir immer mehr Strom. Auf der anderen sollen die fossilen Energieträger durch volatilen Solar- und Windstrom ersetzt werden. Welche Maßnahmen werden getroffen, um die Versorgungssicherheit und Stabilität im Stromnetz zu garantieren?

WAGO hat durchkalkuliert, wie wir den steigenden Bedarf decken könnten. Angenommen alle in Deutschland beim Kraftfahrzeugbundesamt angemeldeten Fahrzeuge inklusive LKW würden jetzt auf E-Mobilität umgestellt, gäbe es einen 25% höheren Strombedarf. Diese erhöhte Stromlast müsste erzeugt werden. Der aktuelle Stromverbrauch in Deutschland liegt bei 540 Terrawattstunden. Zusammen mit den umgestellten Elektroautos wären es ungefähr 730 bis 740 Terrawattstunden.

Nach unseren Berechnungen ist diese Leistung z.B. durch einen Photovoltaik-Park mit der Größe von 60 x 60 Kilometern zu erreichen. Die Erzeugung ist eine große Herausforderung, aber sie ist machbar. Es müssen sämtliche freie Flächen, die Sinn machen und ökologisch vertretbar sind, genutzt werden, um Strom zu erzeugen. Auch Gebäude müssen zu Energieerzeugern werden. Aber Solarstrom gibt es nur, wenn die Sonne scheint. Durch den Zuwachs an Photovoltaik gibt es große Schwankungen im Netz, die stabilisiert werden müssen. Das ist nach der Stromerzeugung die zweite Herausforderung.

Um diese Herausforderung meistern zu können, werden einerseits Speicher benötigt und andererseits auch Maßnahmen für mehr Flexibilität in den Stromnetzen?

Ja, Speicher werden benötigt, aber vor allem muss das Energienetz, besonders das Niederspannungsnetz, transparent gemacht werden, um die Stromversorgung zu stabilisieren. Dabei spielen unter anderem die Trafostationen eine wichtige Rolle, denn meiner Meinung nach spielt sich eigentlich hier die Energiewende ab. Hier befinden sich die zukünftigen Synapsen unseres Energienetzes. Die meisten Trafostationen sind noch nicht digitalisiert, das heißt, man weiß gar nicht, was in den Niederspannungsnetzen passiert. Wenn jetzt in einem Dorf alle Hausbesitzer eine PV-Anlage installieren würden, wäre die Trafostation gar nicht in der Lage, die bidirektionalen Energieflüsse zu handeln. Darum müssen die Trafos digitalisiert werden.

Warum ist gerade das Niederspannungsnetz so ein wichtiges Handlungsfeld?

Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass im Rahmen der Energiewende nicht wie in den letzten 120 Jahren auf Zentralität, sondern auf Dezentralität gesetzt wird. Das bedeutet, dass in den Städten, Regionen und Sektoren so viel Energie erzeugt werden muss, wie dort auch benötigt wird. Diese Energie wird über Quartiere und Sektoren hinweg getauscht, so dass im Prinzip die Siedlungsgebiete weitestgehend energieneutral oder autark werden. Dann braucht man keine Hochspannungstrassen als Verbindungselement, um etwa Windstrom über weite Strecken zu transportieren. Mathematisch gerechnet würde der quartiers- und sektorübergreifende Austausch funktionieren, allerdings nicht überall. Die dezentrale Stromversorgung spielt sich in dem Spannungsband ab, an das die Häuser angeschlossen sind, und das ist die 400-Volt-Ebene, also das Niederspannungsnetz.

Wie lassen sich nun die Niederspannungsnetze digitalisieren? Haben Sie bei WAGO dafür schon Lösungen?

Wir konnten in den letzten 15 Jahren eine Menge Erfahrungen bezüglich der Digitalisierung sammeln, sowohl bei großen Anbietern in Europa als auch bei kleineren Stadtwerken. Bei der Digitalisierung sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Zum einen gehört das Monitoring von Stromspannung, Leistung und Frequenz sowie die Oberwellenanalyse dazu. Das Zweite ist die Kommunikation aus diesen Stationen auf übergelagerte Leitsysteme und schließlich die Stabilität des Systems, welches eingesetzt wird. Der Energieversorger will langfristige stabile Lösungen haben, auch was den Schutz vor Hackerangriffen angeht.

Welche Rolle werden Speicher zur Stabilisierung des Stromnetzes spielen?

Die Speicherung spielt neben der Stromerzeugung und Digitalisierung des Netzes auf jeden Fall eine weitere Rolle. Welche Speicher es dann schlussendlich sein werden – chemische oder mechanische – muss man abwarten. Ich denke, in der aktuellen Situation, in der wir kurzfristig Lösungen brauchen, sind netzdienliche Speicher der erste Schritt.

Im Moment sind die Menschen es gewohnt, elektrische Geräte einzuschalten oder ihr E-Auto zu laden, wann immer sie wollen. Allerdings haben wir vorhin bereits festgestellt, dass die Stromerzeugung volatil ist. Wäre Flexibilität hier eine Lösung?

Sie sprechen von den Kundenbedürfnissen. Ich denke, die werden wir auch in Zukunft haben. Wir können die Menschen nicht zwingen, ihre Waschmaschine oder den Backofen genau zum Zeitpunkt X einzuschalten. Das würde eher zu Rebellion führen. Wir müssen es den Menschen ermöglichen, dann über ihre Energie zu verfügen, wann sie benötigt wird, beispielsweise mit netzdienlichen Speichern. Technologisch ist das kein Problem.

Es wird immer wieder die Sorge geäußert, dass ein Blackout droht, wenn zum Beispiel abends alle gleichzeitig ihr E-Auto laden. Welche technologischen Lösungen gibt es, um so etwas zu verhindern oder sehen Sie mittelfristig eine Gefahr für die Versorgungssicherheit?

Die Gefahr eines Blackouts sehe ich nicht, weil es technologische Lösungen gibt, um ihn zu verhindern. Wenn wir das Netz transparent machen, können wir elektrische Lasten so regeln, dass es nicht zu einer Überlastung kommt. Machen wir das Netz aber nicht transparent, ist diese Gefahr durchaus gegeben.

Aber es kommt ja durchaus mal zu Blackouts. Was läuft in diesen Fällen falsch?

Das passiert eher, wenn auf der Mittel- oder Hochspannungsebene unerwartet Leistungsverbindungen wegfallen und betrifft damit die Versorgungsseite. Ein Blackout durch Überlastung auf der Niederspannungsebene ist selten der Fall.

Eine weitere Gefahr für die Stromversorgung sind Hackerangriffe, wovor natürlich auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges verstärkt gewarnt wird. Steigt diese Gefahr durch die zunehmende Digitalisierung? Wie gut sind unsere Systeme dafür gerüstet?

Durch die Transparenz, die wir anstreben, schaffen wir auch den Einstiegspunkt für jeden Hacker dieser Welt. Es gibt aber beispielsweise verschiedene IT-Security-Mechanismen, die man einmal in die Controller einbauen kann, um die Kommunikation zu verschlüsseln. Man kann das Betriebssystem eines Controllers schützen. Im Notfall ist es auch möglich, eine Station vom Internet zu trennen und elektrotechnisch weiterlaufen zu lassen. Oder man kann auch mit zwei Controllern parallel arbeiten. IT-Sicherheit für digitale Stationen wird uns immer begleiten und wir müssen versuchen, den Menschen, die uns Böses wollen, einen Schritt voraus zu sein. Das ist eine zukünftige permanente Aufgabe.

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer Folge des The smarter E Podcasts. Das vollständige Interview können Sie hier anhören.

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