Bislang waren es die Großkraftwerke, die dem Netz die nötige Menge an Blindleistung zur Verfügung stellten.
Nun müssen vermehrt die Erneuerbaren ihren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Das Berliner Start-up Blindleister macht daraus ein Geschäftsmodell für Solar- und Windstromerzeuger.
Blindleistung ist in einem Wechselstromnetz ein unvermeidbares Phänomen, das beim Transport von Wirkleistung auftritt. Physikalisch bedeutet Blindleistung, dass die Sinuskurven von Spannung und Strom zueinander phasenverschoben sind. Bei kapazitiven Blindströmen läuft der Strom der Spannung voraus, bei induktiven ist es umgekehrt. Im Gegensatz zur Wirkleistung ist Blindleistung nicht nutzbar. Sie kann keine Arbeit verrichten und pendelt lediglich zwischen Stromquelle und Last. Dabei blockiert sie Netzkapazität, so dass weniger Wirkleistung transportiert werden kann.
Um die Übertragungskapazitäten bestmöglich zu nutzen, braucht ein Netz an vielen Stellen Blindleistungsquellen. Indem die im Netz selbst und durch Verbraucher entstehende Blindleistung durch entgegengesetzte Blindleistung kompensiert wird, können die Netzbetreiber die Spannung in einzelnen Netzabschnitten regulieren. Wie fatal es enden kann, wenn Überspannungen im Netz unzureichend reguliert werden und somit eine Kaskade von Schutzabschaltungen auslösen, hat der Stromausfall in Spanien und Portugal Ende April gezeigt.
Blindleistungslücke wächst
Durch das Abschalten fossiler Kraftwerke im Rahmen der Energiewende schrumpft das Angebot an Blindleistung jedoch. Für Deutschland rechnet der Netzentwicklungsplan Strom (NEP) bis zum Jahr 2037 mit einem wachsenden Defizit: „Ohne die Potenziale aus der netzdienlichen Nutzung von Elektrolyseuren, Großbatteriespeichern und Erneuerbare-Energien-Anlagen aus dem Verteilnetz steigt das Blindleistungsdefizit auf 65 Gvar an“, heißt es im NEP. Gvar steht für „Gigavoltampere reaktiv“, die Einheit der Blindleistung. 65 Gvar entsprechen etwa jener Blindleistung, die 80 Kohlekraftwerke liefern können.
Die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber und eine Handvoll Verteilnetzbetreiber (nur solche, die über ein 110-kV-Netz verfügen) haben nun erstmals die Lieferung von Blindleistung ausgeschrieben, oder sie sind gerade dabei. Deutschland steigt damit in einen Markt ein, den einige andere Länder bereits kennen. Großbritannien, die Schweiz und die Niederlande haben etwa schon Erfahrung mit der marktwirtschaftlichen Beschaffung von Blindleistung.
Vom Nebenprodukt zur Einnahmequelle
Damit kommt das in diesem Jahr gegründete Berliner Start-up Blindleister ins Spiel: Als Dienstleister bindet es die Stromerzeuger aus erneuerbaren Energien an den neu entstandenen Markt an. „Durch die Bündelung verschiedener Energiequellen in einem lokalen Netzgebiet kreieren wir Blindleistungs-PPAs für Netzbetreiber“ erklärt das Unternehmen. Aufgrund der Komplexität der Materie können Betreiber einzelner Solar- und Windparks ohne Hilfe kaum auf diesem Markt aktiv werden.
Profitieren davon können Stromerzeuger oder Speicher, die ins 110-kV-Netz oder auf höherer Spannungsebene einspeisen. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen sollten die Parks über eine Leistung von mindestens zehn Megawatt verfügen, sagt Stefan Häselbarth, einer der Geschäftsführer von Blindleister.
Durchblick in einem komplexen Markt
Darüber hinaus hängt die Eignung sehr vom Einzelprojekt ab. Im ersten Schritt stellt das Start-up daher das individuelle Potenzial seiner Kunden fest. Dabei kommt es drauf an, das Echtzeitverhalten einer Erzeugungsanlage zu verstehen, denn das Erbringen von Blindleistung darf die aktive Stromerzeugung nicht beeinträchtigen. Für die betriebswirtschaftliche Analyse ist außerdem zu berücksichtigen, dass die erzielbaren Preise für Blindleistung in verschiedenen Netzgebieten sehr unterschiedlich sind. Das liegt einerseits an der jeweiligen regionalen Erzeugungs- und Verbrauchstruktur, andererseits aber auch an der Preispolitik der einzelnen Netzbetreiber. Noch ist es kein transparenter Markt, weshalb man bei Blindleister auf mehr regulatorische Vorgaben zugunsten von mehr Markttransparenz hofft.
„Tendenziell ist Blindleistung in ländlichen Regionen stärker gefragt als in Städten und vor allem dort nötig, wo viel Strom aus Erneuerbaren im Netz ist“, erklärt Häselbarth. Deswegen betrachten die Übertragungsnetzbetreiber ihre Netze nicht einheitlich, sondern schreiben die Blindleistung separat für ihre Netzteile aus; Amprion zum Beispiel hat neun Beschaffungsregionen definiert, deren Zuschnitt sich an der Netztopologie orientiert.
Was ist bei Ausschreibungen zu beachten?
Ob sich ein Anlagenpark nun als Blindleistungsquelle eignet, hängt auch von der eingesetzten Technik der Stromerzeugung ab. „Windparks können, je nach Generatortyp, im unteren Leistungsbereich häufig eher kapazitive als induktive Blindleistung liefern“, so die Erfahrungen von Blindleister. Solarparks können meist beides sehr gut bereitstellen. Allerdings schreiben nicht alle Netzbetreiber beide Varianten der Blindleistung gleichermaßen aus; manche haben nur Bedarf an kapazitiver, andere an induktiver Blindleistung.
Unterschieden wird bei den Ausschreibungen ferner zwischen gesicherter und ungesicherter Blindleistung. Bei der gesicherten Erbringung muss der Anbieter die Leistung in vertraglich vereinbarter Höhe kontinuierlich verfügbar halten. Dafür bezahlt ihm der Netzbetreiber einen Vorhaltepreis, also einen Leistungspreis. Die tatsächlich abgerufene Blindarbeit wird dann zusätzlich mit einem Arbeitspreis vergütet.
Bei der ungesicherten Erbringung muss die Blindleistung nicht kontinuierlich verfügbar sein. Sie wird daher nur bei tatsächlichem Abruf mit dem angebotenen Blindarbeitspreis vergütet. Die Laufzeiten der ausgeschriebenen Verträge gehen manchmal über ein Jahr, manchmal auch über mehrere Jahre.
Eine weitere Frage, über die Betreiber von Solar- und Windparks entscheiden müssen, ist, ob sie auch Blindleistung liefern möchten, wenn die Anlagen gerade keinen Strom erzeugen. Das ist möglich, weil die Anlagen auch auf Netzstrom zurückgreifen und mit ihrer Leistungselektronik die Blindleistung generieren können. Ob sich das dann betriebswirtschaftlich rechnet, hängt wiederum sehr von den individuellen Rahmenbedingungen des Projekts ab. Co-Location-Speicher können so zum Beispiel ihre Rentabilität verbessern. Last but not least spielt auch die Länge der Leitung zum Umspannwerk eine Rolle.
Wegen der unzähligen Einflussfaktoren sind die Erlösmöglichkeiten je nach Projekt sehr unterschiedlich. „Für manche Projekte ist die Lieferung von Blindleistung völlig unattraktiv, andere hingegen können fünf bis zehn Prozent an Zusatzerlösen generieren“, sagt Häselbarth.
Wie wird eine Anlage angebunden?
In der Regel brauchen Anlagenbetreiber keine Hardware nachrüsten. Mitunter müsse lediglich im Umrichter die Lieferung von Blindleistung freigeschaltet werden; hardwaremäßig ist die Leistungselektronik dazu meist in der Lage. Zudem müsse eine Anbindung an die Fernwirktechnik des Umspannwerks geschaffen werden, was Anfangsinvestitionen erfordert.
Blindleister selbst entwickelt dann für die betreffende Erzeugungsanlage einen digitalen Zwilling, auf den der örtliche Netzbetreiber jederzeit cloudbasiert zugreifen kann. So signalisiert der Zwilling in Echtzeit, welche Menge an Blindleistung die betreffende Anlage bereitstellen kann.
Das Start-up schafft damit für Anlagenbetreiber die Verbindung zu einem Markt, der gerade erst im Entstehen ist. Auch für das Gesamtsystem seien die neuen Möglichkeiten attraktiv: „Wir stabilisieren die Netzspannung, reduzieren spannungsbedingte Redispatch-Maßnahmen und helfen, kostspielige Investitionen in Netzkomponenten zu verringern“, erläutert Häselbarth.